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Übertragungen

  1. Gehen Sie in eine Bibliothek, in der Sie als BenutzerIn zugelassen sind. Leihen Sie so viele Bücher wie möglich aus. (Wahrscheinlich brauchen Sie HelferInnen zum Tragen der Bücher, Behältnisse für die Bücher und Transportmittel.)
  2. Installieren Sie die Bücher in einem öffentlich zugänglichen Raum, so daß sie angesehen, aber nicht benutzt werden können.
  3. Bringen Sie die Bücher in die Bibliothek zurück.

Ein solches Experiment hat Mario Röhrle, Mitarbeiter der Gesellschaft für Speicherung und Sicherung (GSS) im Sommer 2002 in Leipzig durchgeführt. Mit der Arbeit pp unternimmt er eine Aneignungsgeste, wenn er für zwei Tage sämtliche Bücher aus dem Freihandbereich der (hochschul)öffentlichen Bibliothek in die Galerie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (über)trägt und dort als Material für eine 6x6 Meter große Bodenskulptur verwendet. Arrangiert zu einem einzigen Volumen sind die Bücher zwar präsent, aber nicht benutzbar, sie erhalten stattdessen einen fast monumentalen Charakter. In der Erstarrung zu einer ästhetisch reizvollen Oberfläche liegt die Provokation einer Verschwendung. Interesseloses Wohlgefallen mag sich angesichts der drohenden Ausschließung vom «universellen Wissen» der Bibliothek nicht einstellen.

Im Bibliotheksraum bleiben die Kataloge als Verweis auf die abwesenden Bücher und leere Regale zurück; die Struktur der Bibliothek als Skulptur der Absenz. Eine leere Bibliothek ruft Bilder von Zensur, von der Zerstörung des kulturellen Erbes und von Gedächtnisverlust auf. Zugleich birgt sie - als experimentelle Anordnung - Entwicklungspotentiale: es gibt Platz für neue Bücher, oder die Möglichkeit, die alten Bücher ganz neu zu organisieren. Vielleicht nicht mehr statisch nach «Disziplinen», sondern dynamisch, zum Beispiel nach Nachfrage: das am meisten benutzte Buch würde ganz nach hinten eingeordnet, so daß, wer dieses Meistgebrauchte will, an allen anderen vorbeigehen muß und das Abseitigste das Naheliegendste wird. Zumindest besteht die Möglichkeit, daß beim ordnungsgemäßen Wiedereinsortieren kleine Fehler entstehen, Übertragungsfehler, die neue Sinnzusammenhänge erschließen könnten.

Soweit zur Laborsituation. In der gewohnten Praxis einer Bibliothek kommt ein solcher Übertragungsfehler einem Verlust gleich, ein falsch eingestelltes Buch ist höchstens durch Zufall noch auffindbar. Ohne die Möglichkeit eines wie auch immer strukturierten Zugriffs sind Bibliotheken bloße Datenanhäufungen, erst kategorisiert und geordnet kann aus ihnen Information und daraus Wissen werden.1 Jede Strukturierung aber bevorzugt bestimmte Wissensarten und schließt andere aus. Die Ordnung des Wissens ist, so Coy, «eine der beliebtesten Techniken der Machterhaltung»2, alle Bibliotheken, aber auch Archive, Museen und das Internet sind als von Machtverhältnissen durchzogene Räume zu verstehen.

Insofern ist aber die häufig gebrauchte Bezeichnung dieser Räume als «Wissensspeicher» irreführend. Der Terminus «speichern» legt nahe, daß etwas unverändert aufbewahrt wird, während tatsächlich gerade die Speicherung das Wissen verändert, indem sie es vom zeiträumlichen Kontext seiner Entstehung trennt, von den Subjekten, die wissen, die Wissen produzieren und anwenden und von den Bedingungen seiner Aneignung. Zudem ebnet der Begriff «Wissensspeicher», verwendet als universalisierende Metapher, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Institutionen und ihre je spezifischen Zugangsmodi und Ausschlußmechanismen ein und verschleiert damit auch deren Machtverflochtenheit. Sinnvoller wäre, von «Speichern für Ressourcen zur Bedeutungsproduktion» zu sprechen.

Wer Daten ordnet oder kategorisiert oder geordnete oder kategorisierte Daten in Umlauf bringt, ist ein Autor - oder eine Autorität. Zu untersuchen wäre - und das ist eines der Ziele der GSS - wie Autoritätsverhältnisse und Regulierungssysteme, statt repressiv und einengend zu wirken, aktiviert und im Sinne einer Mehrstimmigkeit produktiv gemacht werden können. Die Open Source und Open Content-Initiativen sind ein Beispiel für eine solche Untersuchung.

1 zur Unterscheidung von Daten, Wissen, Information vgl. z.B. Rafael Capurro, Einführung in den Informationsbegriff, 2000

2 Wolfgang Coy, turing@galaxis.com II, in: Warnke, Coy, Tholen (Hg.): HyperKult: Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel; Frankfurt am Main 1997, S. 26


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